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Die Kunst und Kultur der Goethezeit

Grundlegende Informationen zur Geisteshaltung und Weltanschauung der Goethezeit 

Mit dem Begriff „Goethezeit“ umfassen wir ein Zeitalter der deutschen Geistesgeschichte, das sich zwischen den Jahren 1770 und 1830 erstreckt. Es ist eine Epoche der geistesgeschichtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüche, die ihren Ausdruck in einer Vielfalt geistiger und künstlerischer Richtungen fand: Philosophie, Literatur, Musik und die bildende Kunst dieser Zeit reflektierten die einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen.

Die Goethezeit ist eine Phase des radikalen künstlerischen Umbruchs. Es ist eine Epochenschwelle, welche eine vollständige Transformation der vorherrschenden Kunstauffassung, ihrem Wesen und ihrer Funktion in der Gesellschaft mit sich brachte. Eine Zeit, in der verschiedene Stilformen und Stilrichtungen zwar zeitlich nebeneinander, doch programmatisch gegeneinander in Erscheinung treten. Es ist der Gegensatz des Vernunftbestimmten und des Gefühlsbetont-Sinnlichen, des Klassizismus und der Romantik, welcher das Kunstideal dieser Zeit bestimmt.

 

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Georg Melchior Kraus: Johann Wolfgang Goethe 1775/76, Öl auf Leinwand, © Klassik Stiftung Weimar

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Die geistige Leitfigur dieser Zeit ist Johann Wolfgang von GOETHE. Nach ihm benannte der Leipziger Germanist Hermann August KORFF diese Zeitspanne als „Goethezeit“. Der Gebrauch des Begriffs ist jedoch nicht unumstritten. Er scheint seinen Akzent zu ausschließlich auf die Dichtung zu legen. Die Goethezeit ist jedoch ebensosehr die Blütezeit der deutschen Philosophie, der Musik und der Bildenden Kunst. In dieser Zeit gehören die einzelnen Künste und Wissensgebiete sehr eng zusammen. So ist beispielsweise die Dichtung dieser Zeit Ideendichtung, die gleichzeitig Philosophie und auch Kunstphilosophie gewesen ist. Und das Charakteristikum der literarischen Werke dieser Zeit ist die Thematisierung der Trennung der Künste einerseits und der synästhetischen Grenzerweiterung der Literatur auf die Musik und die Bildenden Künste hin andererseits. Das ästhetische Denken der Goethezeit zielt auf die Ganzheit ab, also auch auf die untrennbare Zusammengehörigkeit von Literatur, Musik und den Bildenden Künsten.  Bei den geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Jahre 1770 bis 1830 handelt es sich keineswegs um einen linearen Prozess. Vielmehr überschnitten sich die geistigen Bewegungen, bereicherten sich gegenseitig oder setzten sich von zuvor herrschenden Strömungen mit einem entgegengesetzten Programm oder Kunstkonzeption deutlich ab. So beginnt die Goethezeit nach der Überwindung der dem Mittelalter zugrundeliegenden Religiösität mit dem Aufkommen eines subjektivistischen Lebensgefühls, bricht zum Pantheismus durch und endet schließlich als zutiefst religiöse Bewegung.

 

Viele geistige Bewegungen drängen sich in diesen Zeitraum:

  • – der Irrationalismus des Sturm und Drang,
  • – die Reife und Gesetzlichkeit des klassischen idealismus,
  • – die volle Entfaltung des Humanitätsgedankens,
  • – das geistige Entdeckertum der frühen Romantik,
  • – die religiös-nationale Phantasie der späten Romantiker etc. 
 
Die sich durch die Goethezeit hindurch entwickelnden Grundthemen sind:
  • – der Humanitätstraum des gebildeten Bürgertums,
  • – die Durchdenkung, Vertiefung und Überwindung des Subjektivismus,
  • – die philosphische Umbildung der Religion und
  • – die Erhebung der Kunst zur höchsten aller Religionen 

 

1. Einblick in die Epochenbezeichnung »Goethezeit« 

Mit dem Begriff »Goethezeit« bezeichnet man die sechzig Jahre, in denen Johann Wolfgang von GOETHE das deutsche Geistesleben dominierte. Demnach beginnt die Goethezeit im Jahre 1770, als GOETHE HERDER begegnet, und dauert an bis zu GOETHES Tod im Jahre 1832.  

Einer ganzen Epoche den Namen einer einzelnen prägenden Persönlichkeit zu geben, bringt jedoch ambivalente, oftmals umstrittene Haltungen mit sich. Warum diese Anwendung dennoch gerechtfertigt ist und warum auch das Goethezeitportal diesen Namen gewählt hat, liegt Goethes Status als "geistiges Lebensexempel" dieser Zeit zugrunde. Fritz MARTINI hat ihn als den "universalsten Geist des modernen Europas" bezeichnet. [1] 

Der Epochenbegriff umfasst die Strömungen Aufklärung (1720-1785), Sturm und Drang (1767-1785), Klassik (1785-1805) und Romantik (1798-1830). Doch handelt es sich bei den geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Jahre 1770 bis 1830 keineswegs um einen linearen Prozess. Vielmehr überschnitten sich die geistigen Bewegungen, bereicherten sich gegenseitig oder setzten sich von zuvor herrschenden Strömungen mit einer entgegengesetzten Kunstkonzeption deutlich ab. Gleichwohl wirkt die Persönlichkeit GOETHES stark genug, um als bindendes Zentrum für all diese divergierenden, vitalen Impulse zu dienen. Auf diese Weise behauptet sich der übergeordnete Epochenbegriff „Goethezeit“ für jene von vielfältigen Strömungen geprägte Zeit. 

Geprägt wurde die Epochenbezeichnung »Goethezeit« von Hermann August KORFF im Jahre 1923 in seinem fünfbändigen Werk Geist der Goethezeit: Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. [2] Die Begriffsbildung hat demnach ihren Ursprung in der Germanistik, wird aber auch in der Philosophie, der Musik und in den bildenden Künsten angewendet. Angesichts der interdisziplinären Tendenz dieser Zeit scheint diese Übertragung eines literarischen Fachbegriffs auf die anderen Künste, auf die gesamte Entwicklung dieser Zeit durchaus gerechtfertigt.

 


2. Zur Problematik von Epochenbildungen

Eine Epochenbezeichnung einzuführen, ist nicht ohne Widersprüche durchzuführen. Im Folgenden soll hinterfragt werden, warum überhaupt eine übergeordnete Epochenbezeichnung eingeführt werden soll, obwohl es doch schon die einzelnen Bezeichnungen gibt. Dieser Ansatz knüpft an den Diskurs über Sinn, Nutzen und Erkenntnisleistung von Epochenbildungen an und unterstreicht die Uneinheitlichkeit der Kriterien, welche die Epochen voneinander abgrenzen. Außerdem soll eruiert werden, ob gerade die Bezeichnung „Goethezeit“ dafür tauglich ist.  

Die Vorteile einer Einteilung in verschiedene Einzelepochen liegen auf der Hand: die Geschehnisse können übersichtlich und auch für jedermann verständlich dargestellt werden. Dadurch werden sowohl die Grundpositionen wie auch die strukturellen Zusammenhänge auf den ersten Blick deutlicher gekennzeichnet. Doch was fehlt, ist die Erklärung der notwendigen Bezüge zwischen den Epochen, das Verbindende. Diese Problematik greift insbesondere bei Zeitspannen, in denen Epochenumbrüche herrschen, also in denen sich konkurrierende Strömungen zeitlich überlappen wie es beispielsweise im 18. und frühen 19. Jahrhundert der Fall ist. So fanden etwa die Auffassungen der Aufklärung, die Gedanken des Sentimentalismus sowie auch die Grundlagen des historischen Schaffensprinzips ihren Niederschlag in den Werken der verschiedenen Strömungen. Und auch die Maler dieser Zeit beherrschten mehrere Methoden. So entwarf beispielsweise Wilhelm TISCHBEIN Bilder des Sturm und Drang und des Klassizismus. Peter von CORNELIUS schuf Werke, die einerseits dem Klassizismus und andererseits der Romantik zugerechnet werden. Teilweise durchliefen die Maler wie etwa Asmus Jakob CARSTENS eine Sturm-und-Drang-Phase, bevor sie sich der klassizistischen Kunstrichtung zuwandten. Ein übergeordneter Epochenbegriff ist nun geeignet, diese Wandlungen und Divergenzen als logisch aufeinander bezogene Entwicklung kenntlich zu machen. 

Verwendet man für diese Zeit stattdessen eine übergeordnete Epochenbezeichnung wie etwa die »Goethezeit«, so präsentiert sich die Vielzahl verstreuter Erscheinungen als kontinuierliches Ganzes. Denn gerade das Zeitalter GOETHES betreffend täuscht die Einteilung kulturgeschichtlicher Entwicklungen in zeitlich begrenzte Epochen Grenzen vor, die ideengeschichtlich nicht vorhanden, sondern rein retrospektives Konstrukt sind, da die Zusammenhänge missachtet werden. Außerdem erweckt die Einteilung in verschiedene Subepochen den Eindruck, dass sich diese gegenseitig ablösen würden. Doch gerade hierbei wird vernachlässigt, dass die unterschiedlichen Strömungen insbesondere in der Goethezeit gleichzeitig geschehen. Bei all den gravierenden Unterschieden zwischen den einzelnen Phasen, Richtungen und Künstlern dieser Epoche, handelt es sich doch – „angesichts der mannigfachen Übergänge und Vermittlungen zwischen diesen Phasen, Richtungen und [Künstlern] in letzter Instanz um einen großen Prozeß“ [3]. 

Während die neuere und insbesondere die kunsthistorische Forschung die Goethezeit nicht mehr unbedingt als eine große Epoche auffasst, sondern sich der umfangreichen Epoche meist über Einzelphänomene nähert, versucht die von dem Leipziger Germanisten Hermann August KORFF 1923 eingeführte Bezeichnung »Goethezeit« ein Gesamtbild der Jahre 1760 bis 1830 anzubieten [4]. KORFF verzichtet darauf, die verschiedenen Epochen voneinander abzugrenzen; er fasst sie zu einer ideengeschichtlichen Einheit zusammen. Dieser von KORFF entwickelte Totalitätsgedanke begreift die Verwendung des Epochenbegriffs nicht als bloße Zeiteinteilung, sondern lässt die sich überschneidenden geistigen Strömungen in ihren unmittelbaren wechselseitigen Bezügen und Verbindungen sichtbar werden. Im Gegensatz zu statischen Modellen, welche die Wirkungsgeschichte nur aus einer Perspektive beleuchten und also verkürzen, möchte dieser Ansatz die Dynamik polyperspektivischer Auseinandersetzung fördern. Und dies ist ja gerade in den Künsten dieser Zeit von besonderem Interesse: suchen sie doch ineinander überzugreifen.  

Den Versuch einer Aufgliederung der Goethezeit in eine Anzahl von Stilphasen unternimmt beispielsweise Richard HAMANN in seinem Werk Deutsche Malerei von Rokoko bis zum Expressionismus [5]. Im Bereich der Baukunst war es Siegfried GIEDION, der die Goethezeit in zwei gesonderte Abschnitte unterteilt: Spätbarocker und romantischer Klassizismus [6]. Bei diesen Aufgliederungen der Epoche fällt ganz deutlich ins Auge, dass die Verfasser sich jeweils auf eine Kunstgattung konzentriert haben. Doch gerade das Zeitalter GOETHES erfordert die Betrachtung der gesamten Künste. 

Weitergeführt wird der interdisziplinäre Ansatz in den frühen 1930iger Jahren von Franz LANDSBERGER in seinem Werk über die Kunst und Ära der Goethezeit. LANDSBERGERS zentrales Interesse „gilt [dem Versuch], das diffizile Beziehungsgeflecht von literarisch-philosophischen Strömungen, Architektur, plastisch wie malerisch-bildenden Künsten methodisch aufzuzeigen; um dann, von den erreichten Forschungsergebnissen ausgehend, die formalen wie inhaltlichen Elemente auf ihren Sinn innerhalb der Stilgeschichte zu bewerten.“ Vor allem auf dem Gebiet der Malerei ergeben sich durch LANDSBERGERS Kunsthistorie neue Deutungen. 

Auch die neuere kunsthistorische Forschung nähert sich dieser Zeitspanne mit dem emeritierten Kunsthistoriker Erik FORSSMAN und seiner Abhandlung Goethezeit. Über die Entstehung des bürgerlichen Kunstverständnisses [7] mit der Epochenbezeichnung »Goethezeit«. Auch FORSSMAN bemüht sich um eine Wiederherstellung einer ganzheitlichen Betrachtung von Kunst und Kultur, Künstler und Publikum, Kunstverständnis und Kunstkritik der Goethezeit und stellt die Goethezeit als eine zusammenhängende Epoche der deutschen Geistes- und Kunstgeschichte dar. Somit entzieht sich auch FORSSMAN den künstlichen Epochengrenzen von Klassizismus und Aufklärung, Sturm und Drang und Romantik.

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[1] Fritz MARTINI: Die Goethezeit. Stuttgart 1949, S. 8. 

[2] Hermann August KORFF: Geist der Goethezeit: Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. 5 Bände, Leipzig 1923-1957. 

[3] Volker RIEDEL: Antikenrezeption. S. 109. 

[4] Hermann August KORFF: Geist der Goethezeit: Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. 5 Bände, Leipzig 1923-1957. 

[5] Leipzig und Berlin 1925. 

[6] München 1922. 

[7] Erik FORSSMAN: Goethezeit. Über die Entstehung des bürgerlichen Kunstverständnisses. München/Berlin 1999..




3. Der Geist der Goethezeit - Grundgedanken der Aufklärung (1720-1785)


Die grundlegende Idee der Aufklärung ist die der individuellen Freiheit im Gegensatz zur Gebundenheit des Individuums durch Kirche, Monarchie, das gesellschaftliche Feudalsystem oder den wirtschaftlichen Merkantilismus. Ausgehend von den französischen Intellektuellen wie Diderot, d'Alembert und Voltaire kann die Aufklärung als eine Emanzipationsbewegung des gebildeten Bürgertums angesehen werden. Nach einem Zustand von innerer Zerrissenheit, wie sie im Barock vorherrschte, brach sich nun der Glaube an die Vernunft Bahn: Der "Rationalismus" ist das Schlagwort dafür. Ihr Programm war es, die Religion durch die Wissenschaft und den Glauben an die Vernunft zu ersetzen. Kant bezeichnet die Aufklärung als "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Damit war auch der Grundstein zur Vorbereitung der Französischen Revolution gelegt.

Mit der Erfindung der Dampfmaschine durch James WATT (1765) wurde zunehmend der Kapitalismus vorangetrieben. Die Folge waren Massenproduktionen zu Hungerlöhnen. Eine Kapitalismuskritik und Kulturrevolution, wie sie in den folgenden Jahren zu brodeln begann, war vorprogrammiert. Eine weitere wichtige Folge des neuen Vernunftdenkens war die Umwandlung der christlichen Religiosität in eine pantheistische Religiosität.

Radikale Neuorientierung der KUNST 
Unter dem Einfluss der rationalen Philosophie und damit verbunden auch mit dem Aufkommen eines neuen Bürgerverständnisses, hatte sich auch ein neues Verständnis für die und ein neuer Umgang mit der Kunst herangebildet. Noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts diente Kunst eigentlich ausschließlich religiösen oder politischen Zwecken unter dem Motto: Kirche oder Palast?
So wie sich die Gesellschaft in geregelten Konventionen bewegte, so agierten die Künstler im Rahmen vorgegebener Kunstregeln. (Eric Forssmann) 
So überwindet die Aufklärung auch den Barock, der von höfischem und kirchlichem Schwulst getragen wurde. 
Nach dem Ende des Ancien Régimes gewann Kunst nun auch im gesellschaftlichen Leben an Bedeutung. Das Bürgertum löste sich durch das neue Denksystem, das Selbstbestimmung und Selbstvollendung in den Vordergrund stellte, von den Zwängen seiner althergebrachten Auftraggeber, wurde autark und gewann an ästhetischem Selbstverständnis.
Einhergehend mit den rhetorisch-poetologischen Aspekten der Nützlichkeit - docere, movere und delectare - wie sie insbesondere der antiken Rhetorik zugrunde lagen, hatte auch Kunst die Aufgabe, den Bürger zu belehren (Wirkungsästhetik).

Überwindung des ROKOKO
Die intime Verspieltheit des Rokokos weicht einer "klassischen" Formstrenge. Im Zuge der Aufklärung setzte eine neue Phase der Produktion von Kunst ein, welche schließlich das Ende des Rokoko als sanft und harmlos tändelnde, nicht sehr nachhaltige literarische Spielart herbeiführte. Der Überladenheit des Spätbarock und der intimen Verspieltheit des Rokoko, das sich einerseits an der bukolischen und pastoralen Lyrik des 17. Jahrhunderts orientierte und andererseits mit höfischen Szenen voller Frivolität aufwartete, wie sie in den Werken von FRAGONARD, WATTEAU und BOUCHER zu finden sind, wurde eine "klassische" Formstrenge gegenübergestellt. Reinheit und Klarheit der Darstellung, Vorrang der Linie gegenüber Farbe und räumlicher Tiefenillusion bestimmten das neue Kunstideal. Nach dem Ende des Rokoko wurden neue Themen innerhalb der literarischen Aufklärung entwickelt. Dazu gehören unter anderem nationale und patriotische Tendenzen, die die Rückwendung ins Germanische und die Einheit aller Deutschen beschwören. Zeitkritische Auseinandersetzungen spielten ebenso eine Rolle wie sozial-familiale Fragen der Ehe und Bildung, Geschlechterkonflikte und der Wirtschaftlichkeit. Kennzeichnend für diese Zeit ist die Loslösung von religiösen Themen beziehungsweise deren Verweltlichung. Vermehrt zeigte sich eine Rückwendung auf antike Formen und Themen sowie eine Hinwendung zur Landschaftsmalerei. Helle Farben und heiter schwingende Linien bestimmten das neue Kunstideal.
 


4. Der Geist der Goethezeit - Grundgedanken der Empfindsamkeit (1750-1770)


Als Gegenströmung zur Aufklärung muss die Empfindsamkeit gesehen werden. Diese Strömung, die ihren Höhepunkt zwischen 1750 und 1770 erlebte, aber bis zur Jahrhundertwende immer virulent blieb, evoziert genau die Themen und Motive, die der Aufklärung als sehr rationalistisches Denksystem diametral gegenübergesetzt waren. Die Empfindsamkeit ist gekennzeichnet als Zeitalter eines schwärmerischen Freundschaftsbundes, einer starken Naturverbundenheit und einer neuen Akzentuierung erotisch entschärfter Liebe. Die Texte sind häufig tränenrührig, Tod und Trennung schwingen in vielen Kontexten mit und prägen die Strömung mit.

Man kann die Empfindsamkeit kaum als homogene Strömung oder sogar Epoche fassen beziehungsweise bezeichnen. Zu unterschiedlich sind Autoren und Texte, das Spektrum der Empfindsamkeit reicht von Friedrich Gottlieb Klopstocks "heiligen" Freundschaftsoden (wie "Der Zürchersee") über die durch Thomas Gray beeinflusste Friedhofslyrik, die Ludwig Heinrich Christoph Hölty in Deutschland zur Meisterschaft führt, bis zu Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers", den Renate Krüger als den Höhepunkt im "Zeitalter der Empfindlichkeit" bezeichnet.

Auch auf dem Gebiet der Religiosität war die Empfindsamkeit eindeutig anti-aufklärerisch. So prägt der Pietismus als protestantische Frömmigkeitsströmung das Denksystem mit. Der Pietismus akzentuiert die Rückwendung auf die Bibel, das Priestertum aller Gläubigen und die subjektive Seite des Glaubens, die sich in Träumen, Visionen und im direkten Gespräch mit Gott ausdrückt. Viele Autoren des 18. Jahrhunderts sind protestantisch und dem entsprechend vom Pietismus beeinflusst. Das gilt für Klopstock wie für Gottfried August Bürger, für Christian Fürchtegott Gellert (den zeitweilig am meisten gelesenen Autor der Aufklärung!) wie Matthias Claudius. Die Namen zeigen, dass der Pietismus keine kurzlebige Strömung war: Er muss als herausragende Ausprägung des Protestantismus im 18. Jahrhundert gelten.

Um 1770 gibt es einen massiven Paradigmenwechsel im deutschen Sprachraum. Zwar bleibt die Aufklärung als antikirchliche und freiheitsliebende, damit anti-absolutistische "Mutter" weiter bestehen, aber eine junge Generation an Autoren und Philosophen bringt neue Gedanken in Literatur und Publizistik ein. Im Vordergrund stehen der Bruch mit allen gesellschaftlichen Regel und Normen und die Hinwendung zu einer individuellen Lebensweise. Idol und Ideal ist William Shakespeare, von dem Goethe sagt: "Natur! Natur! Nichts so Natur als Shakespaeres Menschen!" Symbolfigur der Stürmer und Dränger ist das Genie. Immer männlich, bricht im Genie eine animalische Autonomie durch, die alles andere, das sich nicht seinem individuellen, machtvollen Genie-Strom beugen will, ins Verderben reißt. Man denke an die Bruder-Konflikte bei Friedrich Maximilian Klinger und Johann Anton Leisewitz. In deren historischen Dramen "Julius von Tarent" beziehungsweise "Die Zwillinge" tötet der genialische Bruder den empfindsamen, weil ersterer das gesellschaft tradierte Herrscherrecht des Älteren aufgrund seiner genialischen Lebensweisen, mit der er sich selbst über alle Menschen erhebt, nicht anerkennt.



5. Der Geist der Goethezeit - Grundgedanken des Sturm und Drangs (1767-1785)
 

Die Bewegung des Sturm und Drang beginnt mit Herders «Journal meiner Reise im Jahre 1769» und endet mit Goethes fluchtartiger Abreise nach Italien 1786. Der Name der Epoche geht auf ein Drama von Friedrich Maximilian KLINGER zurück, welche ursprünglich «Wirrwarr» hieß, und läßt sich ausschließlich auf die literarische Bewegung anwenden. 

Es handelt sich hierbei um die literarische Rebellion einer Gruppe 20- bis 30-jähriger Literaten, welche einerseits die Ideen der Aufklärung wie etwa den Freiheitskampf des Individuums gegen jede Beschränkung seiner Subjektivität weiterführten und andererseits sich gegen den Geist der Aufklärung, die Beschränkung der Subjektivität durch das Vernunftgesetz auflehnten. Vor diesem Hintergrund kann die Bewegung des Sturm und Drang als Höhepunkt und Krisis der Aufklärung bezeichnet werden.
 

Empörung gegen die Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft
Das zentrale Motiv der Dichtung ist also die Auseinandersetzung zwischen dem Idealismus, sich zu einer harmonischen Persönlichkeit auszubilden, und dem Realismus der bürgerlichen Arbeitswelt. Es ist die Empörung einer neuen Jugend gegen die Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft, welche den Menschen auf seine ökonomische Funktion reduziert. Sein Lebenssinn wird auf die Arbeitswelt eingeengt und auf ein hochspezialisiertes Beruferlernen ausgerichtet. Es herrschte das Prinzip der Arbeitsteilung, in welcher der Mensch gleichsam zur Maschine herabgewürdigt wird: "Mechanisierung und Entmenschlichung".

 
"Bürgerlicher Idealismus": Forderung nach Humanität
Dem gegenübergestellt wurde nun die Forderung nach Menschlichkeit, nach Humanität. Das Humanitätsideal entspringt dem Wunsch des gebildeten Bürgertums, sich aus den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft zu lösen. Zum Ziel wurde die Ausbildung einer harmonischen Persönlichkeit erhoben:

heraus aus der Enge der bürgerlichen Wirklichkeit,
hinaus in ein freieres, volleres, wahres Leben.

 
Diese Bewegung, in der sich eine gebildete bürgerliche Existenz zur "Ausbildung zum wahren Menschen", also zur Ausbildung einer harmonischen Persönlichkeit bemüht, wird als "Bürgerlicher Idealismus" bezeichnet. Sie geschieht durch die ästhetische Erziehung des Menschen. Durch Anschauung und Genuß von Kunst vollendet sich die Humanität: Kunst zieht empor und erlöst aus der Einengung der bürgerlichen Kultur. Kunst ist der notwendige Ausgleich zur Arbeitswelt.

 
Irrationalismus: Freiheitskampf des Individuums zur Selbstentfaltung
Dies war auch die Befreiung des Individuums aus der Erstarrung eines nur auf den Intellekt gestützten Rationalismus. Nach Auffassung ROUSSEAUS habe uns die einseitige Entwicklung des Geistes aus der natürlichen Ehrfurcht gegen Gott in das Dickicht wissenschaftlich-theologischer Analysen sowie in den Materialismus geführt. An die Stelle der Vernunft und des kalten Rationalismus der Gesellschaft setzen die Stürmer und Dränger als neue Lebensideale zum Ausdruck ihres Freiheitsdrangs, der Freiheit des Individuums zur Selbstentfaltung und dem Drang nach der "Ganzheit des Lebens" die Begeisterung für eine Lebensweite und Lebensfülle: Gefühl und Individualität. Es ist quasi ein Auflehnen gegen die Einzwängung des Lebens in Vernunftsysteme. 

 

Entstehen neuer Ideologien: Subjektivismus, Originalität, Geniebegriff
Mit der in der Aufklärung einsetzenden Umwandlung der christlichen Religiösität in eine pantheistische Religiösität war auch das Entstehen neuer Ideologien verbunden. 
So war es auch der Freiheitskampf des Individuums um seine ideelle Souveränität, um die Ausbildung seines ihm inneliegenden Talents. Der neue Lebenssinn beinhaltet eine gewisse Selbstfindung und Reifung zu dem, was man als Idee in sich trägt: "Subjektivismus". Der Mensch fühlte sich jetzt einmalig. Und dadurch dass jeder Mensch nun die Welt auf seine eigene Weise erlebt, liegt einer jeden Wahrnehmung "Originalität" zugrunde.

 
Der Mythos vom Künstler als Gott
Dadurch wird auch die Kunsttheorie auf eine neue Basis gestellt: Anstelle der Nachahmung der Welt nach festgesetzten Regeln, verbietet das Originalitätskonzept jetzt die bloße Nachahmung. Folglich schafft der Künstler sich eine eigene Welt und wird so zum Schöpfer: "Originalgenie". Den neuen Helden zeichnen Gefühlstiefe, Kraft und Unabhängigkeit aus. In dem Gedicht "Prometheus" (1773) setzt GOETHE dem selbstbewußten Schöpfer ein Symbol

 
Gedanke der Gleichheit
Nach dem Humanitätsideal wie auch nach dem Originalitätsprinzip sind alle Menschen gleich viel wert: Adel, Klerus, Bürger, Bauern. Dieses "alle Stände verbindende Allgemein-Menschliche" verweist auf die der Französischen Revolution zugrundeliegende Dreifaltigkeit von liberté, égalité und fraternité.

 
Erhebung der Natur als höchste aller Religionen: Naturpantheismus
Als Widerpart der falschen, überzivilisierten Gesellschaft werden dem städtischen Bürgertum Gegenbilder eines natürlichen Lebens entgegengestellt. Ausgehend von Jean Jacques ROUSSEAUS Angriff auf die gesamte Kultur erschüttert er auch die rationalistischen Grundgedanken der Aufklärer, die geistige Lebensbegründung durch eine neue rationale Begründung des Lebens auf rein weltlicher Basis zu ersetzen. ROUSSEAUS Kulturpessimismus attackiert das kulturell gebildete Individuum der Aufklärung, welches seine Existenz ausschließlich vernünftig und gesellschaftlich rational und sozial begründet, und somit fähig ist, seinen Platz in der rationalen Gesellschaft auszufüllen,

 
Entwicklung "unglücklicher Existenzen"
Doch aus der Beglückung durch die höhere Welt des Geistes entsteht eine noch verstärktere Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Welt. Die Folge ist die Entwicklung "unglücklicher Existenzen" wie dem Dichter, die in der Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft keinen Platz finden. Dadurch entfremdet sich der idealistische Mensch zunehmend. Er leidet an seelischer Erkrankung, Weltschmerz und Schwermut.  

Zum ersten Mal ist diese Form von Krankheit in goßem Umfang in der so genannten "Werherkrankheit" ausgebrochen, welche durch Goethes Jugenddichtung aufs Höchste gesteigert wurde. Diese Form der schwermütigen Absonderung von der bürgerlichen Gesellschaft, der "Vereinzelung" zeigt sich auch in Hölderlins Jugendroman "Hyperion" mit dem bezeichnenden Untertitel "Der Eremit von Griechenland". Hierbei sollte erwähnt werden, dass sich einhergehend mit der Entfremdung auch eine leidenschaftliche Anklage gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft und damit gegen Deutschland entwickelt hat. Als Resultat dieses Eremitentums des Dichters war der Zusammenschluß der Dichter untereinander in so genannten "Dichterbünden". Ein weiteres damit einhergehendes epochenspezifisches Phänomen ist der Freundschaftskult.


6. Der Geist der Goethezeit - Grundgedanken der Klassik (1786-1832)
 

Die Klassik, ohne Zweifel die bedeutendste Epoche der deutschen Geistesgeschichte, schließt sich an den Sturm und Drang an, der endet, als die erste Autorengeneration (eine zweite gab es nicht, nur Friedrich Schiller holt ab 1780 nach, was ihm aufgrund seines Alters – der 1759 Geborene ist etwa zehn Jahre jünger als die Stürmer und Dränger um Goethe, Herder und Co. – in den 1770ern verwehrt blieb) den Genieschuhen entwachsen ist. Im Zuge des von Johann Joachim Winckelmann initiierten Altertumsinteresses verbreitet sich ab spätestens 1785, nach Goethes Rückkehr aus Italien, zunehmend das strengere klassizistische Kunstideal, dessen oberstes künstlerisches Ziel die Nachahmung der klassisch antiken Kunst gewesen ist. Winckelmanns eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kunst der Antike bildet die direkte Grundlage für den Klassizismus in Deutschland.

Die zunehmende Begeisterung der deutschen Künstler für Italien und seine Kunstschätze trug ebenfalls entscheidend zu dieser Entwicklung bei. Das idealisierte Griechenland- und Antikebild wird als Vorbild der modernen Kunst betrachtet: „Das allgemeine Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist eine edle Einfalt und stille Größe.“

Diese Formel beinhaltet die Forderung nach harmonischer Einheit und Ganzheit der Persönlichkeit wie sie auch im Bildungs- und Humanitätsideal des Klassizismus gepflegt wird. Bestes Beispiel für diese Tendenz ist Goethes große Tragödie „Iphigenie auf Tauris“.

Goethezeitportal

Informationen über Goethe und die Kunst und Kultur der Goethezeit

Das Goethezeitportal ist eine an der Ludwig-Maximilians-Universität München gegründete multimediale Präsentationsplattform und internationales Netzwerk für den Diskurs der Kunst und Kultur der Goethezeit. Es informiert über die bedeutendste Periode der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte. Als zeitlich fixierte Periode, die sich an der Schaffenszeit Johann Wolfgang Goethes von circa 1770 bis zum Tod des Meisters 1832 erstreckt, nimmt die Goethezeit innerhalb der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte eine besondere Stellung ein: Diese rund 60 Jahre umfassen drei der künstlerisch produktivsten und hochwertigsten Epochen der deutschen Geistesgeschichte – die Aufklärung mit der Strömung des Sturm und Drang, die Weimarer Klassik und die Romantik.

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Kunst und Kultur der Goethezeit


Ausgehend von den Valenzen der Kultur und insbesondere der geistesgeschichtlichen Bedeutung Johann Wolfgang von GOETHES und der Goethezeit für unsere (post-)moderne Gesellschaft wurde im Jahre 2002 als exemplarisches Modell, wie Wissensaufbereitung und Kulturvermittlung in der Zukunft aussehen können, das GOETHEZEITPORTAL ins Leben gerufen. Entgegen der Ökonomisierung des Wissens wollen wir mit dem GOETHEZEITPORTAL den unbefriedigenden Zustand des Wissens im Zeitalter der Massenmedien (Wissensexplosion bei Spezialisierung der Wissensgebiete, Wechselverhältnis von „Informationsüberflutung“ und „Informationsmangel“, Zweifel an der Qualität von Informationen aus dem Internet etc.) zumindest ansatzweise bewältigen und der vernetzten Welt die deutsche Sprache sowie die kulturellen und humanitären Werte Europas wie sie einst Goethe in seinem Konzept der Weltliteratur formulierte, kostenfrei vermitteln. GOETHE, SCHILLER, LESSING, HERDER, WIELAND, KANT, die HUMBOLDTS – ihre Ideen und Werke bilden noch heute das Fundament nicht nur unserer deutschen bürgerlichen Kultur. Was damals gedacht und geschaffen wurde, wirkt noch in unsere Zeit fort. Noch immer sind jene Gründerväter der deutschen Geisteskultur Vorbilder für Selbstbestimmung und Selbstvollendung. Ihre Namen stehen für den Humanitätsgedanken und einen sittlichen Idealismus, für offene Gesinnung und Herzensbildung. Jetzt, da wir in einer Welt leben, die von großen medialen Umwälzungen geprägt ist, wird das Ausmaß ihrer Leistung erst im vollen Umfang erkennbar. Inmitten den Auswirkungen der Fortschrittsdynamik dienen diese zur Orientierung und Stabilisierung. Mittlerweile hat sich das GOETHEZEITPORTAL zu einem beachtlichen Forschungsinstrument entwickelt. »Was als Vision begann, hat sich inzwischen als aktuelles, lebendiges, handfestes Fachorgan seinen Platz in der digitalen Informationswelt erarbeitet und wurde als wissenschaftliche Publikationsplattform der Goethezeit von der germanistischen Fachwissenschaft offiziell anerkannt.« (Augsburger Allgemeine Zeitung)